28.03.2023

DIE 9,5 THESEN ­– REFORM DES RELIGIONSUNTERRICHTS

Als JuLis stehen wir für Werte ein wie Toleranz, Weltoffenheit und die Befähigung des Individuums unabhängig von seiner Herkunft. In einem maroden System schulischer Bildung auf dem Stand des 19. Jahrhunderts sticht ein Themenfeld heraus, das in besonderer Weise für überkommene Strukturen steht und diesen Grundwerten leider nicht gerecht werden kann: der Religionsunterricht in seiner derzeitigen Form. Unberechtigt einseitig bleibt er bis heute einer der blinden Flecken einer angemessenen säkularen Trennung von Staat und Kirche und spiegelt die pluralistische Gesellschaft Deutschlands traurigerweise kaum wider.

Zur Beendigung dieses Missstands fordern wir folgende konkrete Maßnahmen:

1. Entprivilegierung des bekenntnisorientierten Unterrichts

Verfassungsrechtlich genießt der Religionsunterricht bis heute eine besondere Privilegierung in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG. Der Religionsunterricht muss sich inhaltlich mit den Grundsätzen der zugrunde liegenden Religionsgemeinschaft identifizieren. Ein in diesem Sinne durchgeführter Religionsunterricht müsse laut BVerfG den “Bekenntnisinhalt” bzw. “die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft” darlegen und sie “als bestehende Wahrheiten vermitteln”. Mit den Maßstäben des Art. 7 Abs. 3 GG sei eine “überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren” daher ausgeschlossen.

Diese Aufgabe eines verpflichtenden, zu einer bestimmten Religion bekennenden, Unterrichts stellt einen Anachronismus dar, der abgeschafft gehört. Zwar können sich Schülerinnen und Schüler auch heute schon vom Religionsunterricht abmelden. Dies ändert aber nichts an der systemischenSchieflage. Durch Art. 7 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG wird ein staatliches Leitbild eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts als „Pflichtfach mit verfassungsverbürgter Befreiungsmöglichkeit“ aufrechterhalten. Diese Ausgestaltung sorgt u.a. dafür, dass den Religionsgemeinschaften ein subjektives, einklagbares Recht auf Einrichtung und Erteilung von Religionsunterricht zuteil wird. Da dieses Leitbild in der heutigen Zeit eine Verkennung der gesellschaftspolitischen Realitäten darstellt, fordern wir, Art. 7 Abs. 3 Satz. 1 und 2 GG dahingehend abzuändern:

a. Anstelle eines, sich zu einer bestimmten Religion bekennenden, Unterrichts soll ein Schulfach treten, welches philosophische, weltanschauliche und religiöse Werte miteinander verknüpft und wertneutral lehrt. Hierfür kann entweder ein konfessionsübergreifender Religionsunterricht mit Schwerpunkt auf den religiösen Aspekten eingerichtet werden oder – alternativ als freie Wahlmöglichkeit für die Schülerinnen und Schüler – ein Ethikunterricht, wie beispielsweise Werte und Normen in Niedersachsen. Die genaue Ausgestaltung soll den Ländern verantwortet werden.

b. Es soll auch weiterhin die Möglichkeit bestehen, dass bekenntnisgebundene Schulen (z.B. katholische Schulen) den in der jetzigen Form bestehenden, konfessionsgebundenen Unterricht anbieten können.

c. Der verfassungsrechtliche Mitwirkungsauftrag der Religionsgemeinschaften wird abgeschwächt. Im status quo ist der Religionsunterricht in Deutschland eine sogenannte res mixta, d.h. eine gemeinsame Angelegenheit des Staates und der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Die staatliche Seite sorgt für die Rahmenbedingungen, die Religionsgemeinschaften für die inhaltliche Ausrichtung sowie die Begleitung der Lehrkräfte. Im neuen Modell eines bekenntnisfreien Unterrichts besteht keine Notwendigkeit mehr, dass die Lehrkraft “religiös erkennbar” bleibt. Als Konsequenz soll die bisherige Pflicht, dass die Lehrkräfte von der Religionsgemeinschaft, der sie selbst angehören, eine kirchliche bzw. religiöse Lehrerlaubnis (sog. Vokation) erhalten müssen, entfallen.

2. Ethikunterricht und freiwillige Religionswissenschaften einführen

Anstelle eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts soll das Fach Ethikunterricht als grundsätzliches Pflichtfach treten. Als Alternativfach soll, analog zur jetzigen Wahl zwischen Werte und Normen und Religionsunterricht, das neue Fach der konfessionsübergreifenden Religionswissenschaften geschaffen werden.

Hierfür soll das Land Niedersachsen die §§ 124 ff. Niedersächsisches Schulgesetz dahingehend ändern, dass das Fach Ethikunterricht sowie als freiwilliges Alternativfach Religionswissenschaften eingeführt wird.

Nur mit einem solchen Modell gelingt es, dass sich Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit unterschiedlichen Religionen auseinandersetzen und auf diese Weise Kritikfähigkeit, Dialog und Toleranz einüben.

3. Konfessionelle Gleichstellung in der Schule

Neben den Maßnahmen für eine konfessionelle Gleichstellung bzw. konfessionslose Schule, fordern wir einen Katalog unverzüglich umzusetzender Maßnahmen zur Beseitigung nicht nachvollziehbarer Privilegien der christlichen Religion:

a. Leitbild des Niedersächsischen Schulgesetzes ändern.

2 Abs. 1 Satz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) statuiert den Bildungsauftrag der Schulen wie folgt: „Die Schule soll im Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln.“ Wir fordern, „auf der Grundlage des Christentums“ durch „auf der Grundlage eines weltanschaulich-pluralen Wertefundaments“ zu ersetzen.

b. Keine „Grundschulen für Schülerinnen und Schüler des gleichen Bekenntnisses“

§§ 129 ff. NSchG begründen einen grundsätzlichen Vorrang zur Errichtung von öffentlichen Grundschulen für Schülerinnen und Schülern des gleichen Bekenntnisses, welche durch Lehrkräfte des gleichen Bekenntnisses zu unterrichten sind. Eine solche Trennung nach Religion bereits zumGrundschulalter steht einer Erziehung im konfessionsübergreifenden, von ethischen Werten geleiteten Rahmen diametral entgegen und gehört abgeschafft.

c. Keine Sonderstellung im Stundenplan

Nach 1.3. der Niedersächsischen Regelungen für den Religionsunterricht und den Unterricht Werte und Normen (im Folgenden: Nds.-Erlass von 2011) ist „bei der Aufstellung der Stundenpläne […] darauf zu achten, dass der Religionsunterricht und der Unterricht Werte und Normen nicht regelmäßig zu ungünstigen Zeiten, z. B. in Randstunden, erteilt werden“. Es bestehen jedoch keine Gründe, dem Religionsunterricht eine Sonderstellung einräumen. Dass beispielsweise Mathematik auf Grund der einseitigen Bevorzugung des Religionsunterrichts in den späten Nachmittag fällt, gehört geändert.

d. Keine Privilegierung des Religionsunterrichts bei der Allokation der Lehrkräfte.

Nach 7.2. des Nds.-Erlasses von 2011 sollen Lehrkräfte, die Religionsunterricht erteilen, nur dann für Werte und Normen eingesetzt werden, wenn ihr Einsatz im Religionsunterricht „nicht erforderlich“ ist. Dies bedeutet, dass, sollte in einer Schule eine Mangellage an Lehrkräften für den Religionsunterricht und gleichzeitig Werte und Normen bestehen, der Religionsunterricht bevorzugt werden soll. Verfassungsrechtlich soll das Alternativfach dem Religionsunterricht jedoch gleich stehen. Schülerinnen und Schüler, die sich vom Religionsunterricht abmelden, müssen im gleichen Umfang in Fragen der Werteerziehung unterrichtet werden. Eine Ungleichbehandlung wegen der Konfessionalität der Wertevermittlung ist mit der religiösen Neutralität des Staates unvereinbar. Da 7.2. des Nds.-Erlasses von 2011 hiermit erkennbar im Widerspruch steht, gehört er abgeschafft.

e. Nicht-christliche Feiertage gleichermaßen feiern dürfen.

Sowohl § 7 i.V.m. § 11 des Niedersächsischen Gesetzes über die Feiertage (NFeiertagsG) als auch der hierauf aufbauende Erlass „Unterricht an kirchlichen Feiertagen und Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen ist von einer unterschiedlichen Behandlung der Konfessionen geprägt. Beispielsweise muss die Teilnahme an einer Veranstaltung zwecks evangelischen oder katholischen Feiertages bloß schriftlich durch die Eltern oder die „religionsmündigen“ Schülerinnen und Schüler „mitgeteilt“ werden, bei anderen Religionsgemeinschaften ist jedoch ein „Antrag“ der Eltern oder der „volljährigen“ Schülerinnen und Schüler notwendig. Ferner soll unter anderem „auf die dem kirchlichen Unterricht vorbehaltenen Nachmittage […] bei der Unterrichtsplanung, insbesondere bei der Planung von Nachmittagsunterricht, Rücksicht [genommen werden]“. Eine solcheZuschneidung auf die christlichen Religionen gilt es abzuschaffen. Auf andere Religionsgemeinschaften ist gleichermaßen Rücksicht zu nehmen, z.B. bei Klausurenphasen in Zeiten des Ramadans.

Sunset-Klausel: 1 Jahr

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